Anne, 18 Jahre alt, Medizinstudentin im 2. Semester, mit 12 Jahren mit dem Ullrich- Turner- Syndrom diagnostiziert

Wir brauchen Andersdenker…

Die Schwangerschaft verlief ohne Ultraschallauffälligkeiten. Neun dankenswert ruhige Monate. Die einen seltsamen Kontrast zu der angstgetriebenen, surrealen Achterbahnfahrt darstellen, welche diese Zeit gewesen wäre, hätte man die Diagnose bereits gekannt.

Ruhig war auch mein Start ins Leben. Oder, wie ein Arzt anmerken könnte: „Aus medizinischer Sicht wenig interessant“. Bis auf leichte Lymphödeme, also Schwellungen an Hand- und Fußrücken, welche für das geschulte Auge von der Diagnose sprachen.

Meine Eltern sind beide Ärzte, meine Mutter begann ihre berufliche Laufbahn sogar in der Pädiatrie. Sie nahmen die Lymphödeme durchaus wahr, wie konnten sie auch anders. Aber ansonsten hatten sie doch ein kerngesundes Kind, und in solchen Dingen ist die Philosophie meiner Eltern: Erstmal die Kirche im Dorf lassen. Abwarten, und Tee trinken. Wer mag heute sagen, was meine Eltern sich sonst noch gedacht haben mögen, oder auch nicht, in diesen ersten Wochen. Jedenfalls wurde zunächst kein Karyotyp gemacht.

Die Lymphödeme bildeten sich zügig von selbst zurück, die Veranlagung zu diesen jedoch bleibt. Ich entwickelte mich ansonsten ziemlich unauffällig. Konnte früh sprechen, lernte dagegen etwas später als andere das Laufen. Lesen lernen, Gedichte rezitieren war ein Klacks, das Fahrradfahren dagegen kostete uns allen einiges an Nerven. Genauso wie auch das Malen von Buchstaben. Dass die sprachliche Entwicklung überdurchschnittlich schnell verläuft, im Vergleich zur Motorischen, die eher etwas hinter der Gleichaltriger hinterherhinkt, kann durchaus auch eine „UTS- Sache“ sein. Aber, alles noch im Rahmen. Abwarten, Tee trinken. Zunehmend wurde daneben ein langsameres Längenwachstum offensichtlich, wir müssen 4 und 6 gewesen sein, als meine jüngere Schwester schließlich größer war als ich. Mit der Zeit vertauschten sich so auch unsere Rollen ein Stück weit, und Geschwisterrivalität war für uns immer ein schwierigeres Thema, als wohl für andere Geschwisterpaare.

Ich wurde kurz vor meinem sechsten Geburtstag eingeschult. Machte in der Folgezeit eine allmähliche Entwicklung vom „Problemkind“ zur „Streberin“ durch, lernte, vielleicht mühsamer als andere, in Schulaufgaben ordentlich zu arbeiten. Und meine voreilige Zunge an den richtigen Stellen im Zaum zu halten. Wenn die Notwendigkeit bestand, konnte ich meine Aufmerksamkeit zunehmend besser kontrollieren, aber oft genug schweifte ich auch in Tagträume ab, wenn etwas mich nicht zu fesseln vermochte. Ich war ein tiefes, stilles Wasser… bis auf die ab und an vorkommenden Ausbrüche von kaum kontrollierbaren Emotionen. Denn mit sozialen Normen tat ich mir nach wie vor schwer, genauso mit sozialen Interaktionen, ohne klare Regeln. Meine Freunde waren die Bücher. AD(H)S, ASD, NVLD oder eine „Störung der Impulskontrolle“? Was hätte man nicht alles diagnostizieren können. Meine Eltern aber beobachteten mein Wachstum genau, und ließen die Dinge ansonsten laufen. Sie maßen mich, wie auch meine Schwester, stets an den höchsten akademischen Maßstäben. Nicht, ohne uns gleichzeitig mitzugeben, dass Selbstwert nicht an belanglosen Äußerlichkeiten hängen sollte. Und natürlich, dass es an den entscheidenden Stellen im Leben keine Fleißbienchen gibt.

Irgendwann häuften sich dann doch die Zeichen dafür, dass etwas vielleicht nicht ganz in Ordnung war. Denn nicht nur, dass meine Pubertätsentwicklung ausblieb… Sie tat dies auch noch auf sehr charakteristischer Weise. Wenn die Eierstöcke, wie beim UTS, nicht funktionieren, dann kommt es zu einer „Adrenarche ohne Pubarche“. Die Entwicklungsschritte, die durch Androgene aus der Nebennierenrinde eingeleitet werden, finden normal statt. Die üblicherweise gleichzeitig ablaufenden Entwicklungsschritte, für die Östrogene aus den Ovarien nötig sind, bleiben aus. (Die Details können Sie sich selbst zusammengoogeln). – Übrigens stellt das Ausbleiben der Pubertätsentwicklung für viele Betroffene durchaus eine deutliche psychische Belastung dar. Ich persönlich kann dazu wenig sagen. Denn ich gehörte in der Klassengruppe ohnehin so wenig „dazu“, dass ich nun wirklich andere Probleme hatte. Und selbst im Alter von 12 Jahren, hatte ich das Konzept des Ausgrenzens aufgrund von Äußerlichkeiten noch nicht so ganz verstanden. Für mich war „ausbleibende Pubertät“ also ein Symptom, nicht mehr. Dazu kam die Körpergröße, die mittlerweile deutlich unterhalb der dritten Perzentile lag, da ich allmählich weiter aus der Wachstumskurve gefallen war…. Man brauchte fast kein Arzt mehr sein, um diese Diagnose zu stellen. Ein Termin bei einer Pädiaterin, die gleichzeitig Humangenetikerin war, reichte aus. Es war dies beileibe kein angenehmer Termin. Eigene Unsicherheit der Ärztin, und fehlende Kommunikation setzten einen unguten Ton für die Arzttermine der kommenden Zeit.

Es folgten eine nicht unerwartete Diagnose, ein langer Spaziergang mit meinem Vater mitsamt einem schwierigen Gespräch. Es folgten drei Jahre Wachstumshormontherapie, tägliches Spritzen, mit halbjährlichen Kontrollen in der Uniklinik. Batterien von Untersuchungen, Tage, durch die ich schlafwandelte. Die Arzttermine waren für mich persönlich der bei weitem schlimmere Teil dieses package deals. Denn die Aussicht, sich einmal täglich subkutan zu spritzen, wirkt zwar zunächst beängstigend, ist aber, zumindest ab einem bestimmten Alter, tatsächlich keine allzu große Sache. Zwischen den Arztterminen wollte ich vom UTS nichts wissen. Nicht, dass ich das geringste Bedürfnis hatte, „normal“ zu sein… aber persönlich identifizierte ich mich als „Nerd“. Nicht als „Kranke“ oder „Patientin“. Meine Identität wenigstens war mir also geblieben. Aber vieles andere, scheinbar Selbstverständliche, stand plötzlich in Frage. Im ersten Moment war die Diagnose wie ein unvorhergesehener Faustschlag, mitten in die Magengegend. Der einen leicht benommen zurücklässt. Mit der Zeit blieb vom ursprünglichen kalten Schock ein diffuses Gefühl von Angst. Hier war ich, ein zwölfjähriges Mädchen, das plötzlich- alleine- mit einer Diagnose klarkommen sollte, die es nicht annährend einschätzen konnte. Und die ganze Zeit über schrie etwas in mir: „Du willst es gar nicht so genau wissen. Du willst es gar nicht so genau wissen“.

Dies ist, im Nachhinein betrachtet, wohl eine der schwerwiegenderen Fehleinschätzungen meines Lebens. Denn eine vernünftige Aufklärung hätte der Diagnose schon früh einiges von ihrem Schrecken genommen. Und doch hat es etwas für sich, dass ich von Anfang an bewusst entscheiden konnte, wie viele Informationen zum UTS ich glaubte zu wollen. Und, ohne irgendwelche Halbwahrheiten zum „neurokognitiven Profil des UTS“ und angeblichen „Schwächen in der Mathematik“ im Kopf zu haben, gewann ich zwei Matheolympiaden im Kreis Südthüringen, brillierte ohne viel Aufwand in allen Unterrichtsstunden – mit der einen Ausnahme von Sport. Bis ich zum ersten Mal bewusst darüber nachdachte, dass andere dies als etwas Besonderes wahrnehmen könnten, saß ich bereits in der Matheabiturprüfung….  Für mich war es mein normal, und meine Quelle von Selbstvertrauen. Nicht, dass ich keine UTS- typischen „Schwächen“ gehabt hätte oder habe (obwohl ich nicht unbedingt von „Defiziten“ sprechen würde). Es ist vielmehr so, dass ich selbst Wege fand, auf meine Stärken zu bauen. Diese wären: Sprachgefühl und Ehrgeiz. Und nein, aus allen diesen Gründen bin ich ob meiner späten Diagnose insgesamt alles andere als böse.

Irgendwann folgten Pubertätsinduktion mit Östrogen, später Gestagen, und endlich genaueres Informieren zum UTS. Zunächst aus reinem Selbstschutz, dann eher aus wissenschaftlicher Neugier heraus. Heute ist die Erinnerung fast schon verblasst. An die allumfassende, rabenschwarze Panik, die damit einhergeht, die bekannte lange Liste erstmals zu lesen. Selbst, wenn man doch schon weiß, dass so vieles einen nicht betrifft. Aber mit jeder Wiederholung verlieren diese Fakten etwas von ihrem Schrecken. Und einige Dinge, die meine Eltern mir vorgelebt hatten, stellten sich jetzt für mich ganz persönlich als die größten Hilfen im Umgang mit der Diagnose heraus: „Mach dir nicht die Mühe, Entschuldigungen für dein Versagen zu suchen. Die Verantwortung trägst nur du selbst“, „Das Kognitive zählt, nicht das Körperliche“, und natürlich: „Nur, weil du der „Fall“ bist, um den es bei einem Arzttermin geht, musst du noch lange nicht panisch werden, und die Kontrolle verlieren. Bleib kritisch, bleib rational.“

Bleibt ehrgeizig, bleibt kritisch, behaltet selbst die Zügel fest in die Hand.

Mittlerweile bin ich zwangsläufig diejenige, die neuen Ärzten das UTS erklärt. Oft können diese nicht allzu viel mit der Diagnose anfangen, man kommuniziert auf Augenhöhe. Man ist keine Statistik mehr, nicht „die UTS Patientin“, niemand, über den geredet wird. Genau das wünsche ich mir ohnehin: Redet mit uns statt über uns. Dann seht ihr vielleicht, dass wir so viel mehr als eine Diagnose sind. Wir haben Meinungen, Hobbies, Träume, Sehnsüchte, wie jeder andere Mensch auch. Sind Philosophinnen, Weltenverbesserinnen, „Potterheads“, Reiterinnen, Joggerinnen, Musikerinnen…. Psychologinnen, Programmiererinnen, Chemikerinnen, Turnerinnen, und was immer man sich sonst noch vorstellen kann. Und manchmal, da bemerke ich mit einem Anflug von Stolz, dass mir etwas von diesem Kind erhalten geblieben ist. Von dem Kind, das in keine Schublade zu passen schien, und eben deshalb vieles aus der Vogelperspektive beobachten konnte. Dem Kind, das regelmäßig mit dem Kopf gegen Wände anrannte. An der dicksten Stelle, und mit Überzeugung. Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die nicht ins Schema F passen. Dringend. Wir brauchen all die Freidenker, Nerds und Freaks dieser Welt.

Ich habe direkt nach dem Abitur ein Medizinstudium begonnen, stecke aktuell schon mitten in der Prüfungsvorbereitung für das zweite Semester. Wie die Zeit rennt… Momentan kann ich mir gut vorstellen, einmal in die Humangenetik zu gehen. Hier also wäre mein erster „Fallbericht“ ;). Der einer UTS- Patientin, vorstellig erstmals im Alter von 12 Jahren, mit primärer Amenorrhoe und Minderwuchs. In gutem AZ und EZ. Ist es ein „typischer Fallbericht“ der Monosomie X? Nach meinem Dafürhalten schon, tatsächlich bin ich in vielerlei Hinsicht fast schon ein Lehrbuchbeispiel für die klassische Form des UTS (glücklicherweise ohne die angeborenen Herz- oder Nierenprobleme, die aber eben lange nicht in allen Fällen auftreten. Die Zahlen dazu wären grob: 23 Prozent der lebend geborenen Betroffenen haben einen angeborenen Herzfehler, 13 Prozent allerdings „Nur“ eine bikuspide Aortenklappe, 10  Prozent eine Aortenisthumsstenose, Congenital heart disease in patients with Turner’s syndrome. Italian Study Group for Turner Syndrome (ISGTS) – PubMed (nih.gov). Und, was die Hufeisenniere angeht: Die funktioniert oft einwandfrei, man will nur wissen, dass eine solche vorliegt). Vor NIPTs lag das Durchschnittsalter bei der Diagnose für das UTS um die 12 Jahre herum. Also: Ja, bestimmte ärztliche Kontrollen sind lebenslang, oft in relativ großen Abständen, sinnvoll. Ja, bestimmte gesundheitliche Probleme sind häufiger (darunter auch Autoimmunerkrankungen, insbesondere die Hashimoto-Thyreoiditis, und die Aortendissektion, für die wir circa ein Lebenszeitrisiko von 2 Prozent haben, Aortic Dissection in Turner Syndrome – PMC (nih.gov)). Aber Garantien gibt es sowieso nicht, krank wird früher oder später jeder. UTS oder nicht. Die take- home message sollte also sein: Nein, mit einem Kind mit UTS ist man nicht „nur beim Arzt“, das UTS macht uns nicht zu „Kranken“. Aller Wahrscheinlichkeit nach, lassen sich eventuelle gesundheitliche Probleme sehr gut in den Griff bekommen, falls es ein Mädchen bis zur lebenden Geburt schafft. Auch für mich persönlich, habe ich mittlerweile eine vernünftige Einstellung zu all den Risiken und Eventualitäten gefunden.

Sieht man uns das UTS an? In den meisten Fällen, abgesehen von der Körpergröße, eher nicht. Nur, wenn man wirklich weiß, nach welchen Merkmalen man schauen muss. Teilweise fallen schon deutlichere äußere Merkmale auf. Auch hier gibt es Möglichkeiten. Zur operativen Korrektur, oder zu einem selbstbewussten Umgang mit dem abweichenden Äußeren.

Und noch ein Fakt ist mir wichtig: wir Frauen mit UTS als Gruppe erreichen, oft relativ deutlich, überdurchschnittliche Schulabschlüsse (High Levels of Education and Employment Among Women with Turner Syndrome | Request PDF (researchgate.net), High Levels of Education and Employment Among Women with Turner Syndrome – PMC (nih.gov)). So wichtig ist das zu erwähnen, weil sich ein Stigma von geistiger Behinderung rund um das UTS hartnäckig hält. Dieses ist jedoch faktisch inkorrekt, die seltenen Fälle, in denen eine solche vorliegt, fallen statistisch gesehen kaum ins Gewicht.

Also: Nein, ich bin nicht wirklich ein „untypischer Fall“ des UTS.  Das Problem ist wohl eher, dass das Bild, welches vom UTS noch immer vorherrscht, von schweren körperlichen Einschränkungen, geistiger Behinderung, so gar nicht zu der Realität der meisten Betroffenen zu passen scheint….. Nein, ich will nicht sagen, dass größere gesundheitliche Probleme nicht auftreten können. Das ist aber auch kaum der Punkt. Entscheidend ist, dass vieles, vieles ganz einfach auch bei uns nicht extrem häufig, oder aber gut behandelbar ist. Das UTS ist eine Diagnose, mit der man, nach der Geburt, sehr gut leben und umgehen kann.

Wenn ich euch etwas mitgeben würde, dann wäre das also: Ein „perfektes Kind“ gibt es sowieso nicht, Garantien gibt es nicht. Aber die große Mehrheit der Frauen mit UTS ist weder „krank“ noch „behindert“, sondern führt ein ziemlich „normales“, ziemlich erfülltes Leben. Wir brauchen weder Mitleid, noch ein Podest, auf das wir als „Kämpferinnen“ gestellt werden… Aber, vielleicht ab und an, jemanden, der uns zuhört. Und uns die Chance gibt, unsere Geschichten zu teilen.

Anne ist Teil des Patenprogramms des BFVEK e.V. und freut sich über Ihre Kontaktanfragen mit unserem Online-Formular.

Sie brauchen Hilfe? Wir sind für Sie da!

Unsere Paten sind Familien, die in der selben Situation waren wie Sie. Die Paten stehen Ihnen für einen Austausch über das jeweilige Krankheitsbild, über Erfahrungen vor und nach der Geburt sowie ihre persönlichen Entscheidungswege zur Verfügung. Somit können Sie besser den idealen Weg für Ihre eigene Familie finden.