Die Zwillinge Julia und Felix haben im Rahmen pränataler Untersuchungen die Diagnosen frühzeitiger Blasensprung, Anhydramnion, Lungenhypoplasie, Oligohydramnion erhalten.
Mein Name ist Julia und vor ein paar Tagen haben mein Bruder Felix und ich unseren ersten Geburtstag gefeiert. Das ist unsere Geschichte:
Der erste Schock
Alles begann am 05.11.2019: Bei einer Routineuntersuchung beim Frauenarzt konnte mein Bruder auf dem Ultraschallbild nicht richtig erkannt werden. Da wir beide übereinander lagen und das Ultraschallgerät der Frauenärztin nicht das beste war, schickte die Frauenärztin unsere Mama zu einer Untersuchung an die SLK-Klinik nach Heilbronn. Dort sollte am 14.11.2019 dann eine genaue Ultraschalluntersuchung stattfinden. Die Mama und der Papa waren vor der Untersuchung nicht besorgt, nur etwas aufgeregt, weil uns der Papa an dem Tag auch zum ersten Mal persönlich auf dem Ultraschall sehen sollte. Alle Untersuchungen, die zu Beginn der Schwangerschaft mit uns gemacht wurden, z.B. Nackentransparenzmessung zeigten gute Ergebnisse, daher bestand erstmal kein Grund zur Sorge.
Doch an der Reaktion der Ärztin in Heilbronn merkten meine Eltern schnell: Hier kann etwas nicht in Ordnung sein. Was war los? Was war mit uns Babys?
Die Ärztin meinte dann, sie kann weder bei meinem Bruder noch bei mir Fruchtwasser auf dem Ultraschall erkennen. Was entweder keine Funktion unserer Nieren oder zwei vorzeitige Blasensprünge bedeuten müsste. Ein erster Test auf Abgang von Fruchtwasser fiel negativ aus. Mama hatte keinen Abgang von Fruchtwasser bis dahin feststellen können, daher war sich die Ärztin mit der Ursache des fehlenden Fruchtwassers nicht ganz sicher und wollte eine zweite Meinung von der Uniklinik in Heidelberg zu unserem Fall bekommen. Zum weiteren Gespräch wurde sofort eine Kinderärztin hinzugezogen. Mama und Papa wurden dann darüber informiert, welch einen schwierigen Verlauf eine Schwangerschaft ohne Fruchtwasser bedeutet und welche Risiken es für uns Kinder gibt, falls die Schwangerschaft bis zu einer Woche der Lebensfähigkeit andauern würde. – Wahrscheinlich keine Lungenentwicklung, hohes Infektionsrisiko für Mama, Defekte an den Armen und Beinen und wahrscheinlich sofortige Entbindung in der 23. Schwangerschaftswoche, was weitere Risiken mit sich bringt. Dennoch waren beide Ärztinnen sehr nett und wollten sich erstmal mit der Ursache für das fehlende Fruchtwasser sicher sein. Da wir uns in der 14. Schwangerschaftswoche befanden, waren die Nieren noch sehr klein und somit auch eine Fehlentwicklung der Nieren oder ableitenden Harnwege als Ursache für das fehlende Fruchtwasser nicht auszuschließen.
Empfehlung zum Abbruch
Dank der Bemühungen der Oberärztin aus Heilbronn hatten wir auch schon am darauffolgenden Montag, den 18.11.2019, einen Termin in Heidelberg. Wie Mama und Papa jedoch bei diesem Termin behandelt wurden, hat ihnen gar nicht gefallen. Die Begrüßung lief so ab: „Warum hat man Sie überhaupt zu mir geschickt?“ Am Ende des Termins erklärten die Ärzte eindeutig, falls wir an Wunder glauben, könnten wir die Schwangerschaft fortsetzen, aber eine Chance gebe es wohl keine. Selbst beim Erreichen einer lebensfähigen Schwangerschaftswoche, würden Felix und ich keine für das Überleben ausreichenden Lungen haben. Sie empfahlen Mama bis zum Ende der Schwangerschaft unter Antibiotika in einer Klinik zu bleiben, um das Infektionsrisiko für sie gering zu halten. Mit dieser Information waren Mama und Papa am Boden zerstört. Dennoch waren sie nicht bereit uns aufzugeben und Mama ging noch am gleichen Tag nach Heilbronn, um stationär in der Klinik aufgenommen zu werden. In der Klinik in Heilbronn war Mama eine Woche und es wurde weiter nach möglichen Lösungen gesucht. Papa war sich mit der Diagnose des Blasensprungs noch nicht sicher und er hatte gelesen, dass – selbst wenn es so wäre – es Möglichkeiten gäbe, Fruchtwasser wieder aufzufüllen. Auf der Suche nach einer Klink, die ein Auffüllen von Fruchtblasen durchführt, und mit der Hilfe von Heilbronn wurde die Uniklinik in Bonn ausfindig gemacht und dort ein Termin vereinbart.
Die Hoffnung nicht aufgeben
Mama und Papa setzten sehr viel Hoffnung in den Termin in Bonn, hier gab es wohl die absoluten Fachleute auf dem Gebiet. Die behandelnde Ärztin war kompetent, distanziert und fachlich sehr sicher. Eine andere Diagnose als wahrscheinlich einen vorzeitigen Blasensprung hatte sie nicht, Hoffnung machte sie uns auch nicht, eine Untersuchung in einer späteren Schwangerschaftswoche stellte sie uns in Aussicht und vom Auffüllen des Fruchtwassers riet sie uns glücklicherweise ab.
Der Rückweg von Bonn war für meine Eltern wohl die schwerste Autofahrt, die sie in ihrem Leben hatten. Beide haben sehr viel geweint und brauchten mehrere Pausen, bevor sie endlich daheim waren. Da Papa ein sehr optimistischer Mensch ist, wurde mit Mama entschieden noch nicht aufzugeben.
Die nächsten Wochen verbrachte Mama daheim, dreimal am Tag wurde Temperatur gemessen, zweimal die Woche die Entzündungswerte im Blut kontrolliert, alle zwei Woche gab es einen Ultraschall und jeden Tag trank Mama vier Liter Wasser, manchmal sogar mehr. Vielleicht sind dies aus medizinischer Sicht keine sicheren Maßnahmen, um eine Entzündung zu entdecken und keine Hilfsmittel, um die Fruchtwassermenge zu verbessern, dennoch braucht man in einer so schwierigen Situation Rituale, an die man glaubt und die einem Hoffnung geben. Was uns auch noch Hoffnung gab: die Entwicklung des Wachstums war gut und in meiner Fruchthöhle konnte man auch manchmal etwas Fruchtwasser sehen. Ich lag noch immer auf Felix, was die Sicht wahrscheinlich erschwerte, aber mein Bruder hatte bei den meisten Untersuchungen kaum erkennbares Fruchtwasser.
So vergingen die Wochen und mit Beginn des Dezembers schenkten sich Mama und Papa beiden je einen Adventkalender. So ein Kalender bekommen meist wir Kinder, aber er hilft einem, eine wichtige Regel in der ganzen Phase des Hoffens und Bangens einzuhalten: einen Tag nach dem anderen.
So weit gekommen und jetzt?
Am 17.12.2019 kam der Tag, an dem bei Mama ein fetales MRT in Heilbronn gemacht wurde, um ein genaueres Bild der Größe unserer Lungen zu haben.
Papa hatte in der Zwischenzeit viele Professoren kontaktiert und von Herrn Doktor Siemer wurde ihm ein gewisser Herr Professor Schaible, der sich mit Lungenproblemen bei Neugeborenen sehr gut auskennt, empfohlen. Den wollte Papa in Eigenregie auf jeden Fall mit dem MRT-Ergebnis zu unseren Lungen nochmals um Rat fragen. Am 20.12.2019 wurde das MRT in Heilbronn besprochen. Auch am 20.12.2019 kontaktierte Papa Herrn Professor Schaible und um ca. 10:30 Uhr, als Papa auf dem Weg war Mama zum Termin in Heilbronn von daheim abzuholen, meldete sich Herr Schaible telefonisch zurück. Es passierte für Papa etwas Unglaubliches, denn Herr Schaible bat ihn, schon am kommenden Montag, den 23.12.2019, um 15:00 Uhr mit dem MRT-Ergebnis nach Mannheim zu kommen, und er machte ihm Mut, denn er wollte sich alles genau anschauen und noch einen weiteren Kollegen wenn möglich dazu holen. Papa hatte bei Herr Professor Schaible gleich ein gutes Gefühl und er hat vor Freude sehr geweint, als er Mama entgegen fuhr. Nachdem er ihr alles erklärt hatte, wollten beide ganz unabhängig von dem Ergebnis in Heilbronn am kommenden Montag nach Mannheim fahren.
Der Termin in Heilbronn verlief dann sehr freundlich und professionell, nur von positiven Chancen für mich und meinen Bruder wurde leider nicht gesprochen.
Ich persönlich bekam von dem Ganzen nicht viel mit, denn ich war gerade dabei, mich vor meinem Bruder zu bewegen und die Führung in der Sache zu übernehmen. Wie Sie sicher wissen, sind wir Frauen allgemein robuster und die Politik möchte sowieso mehr Frauen in Führungspositionen. Zum späteren Zeitpunkt sehen wir noch wie hilfreich diese Aktion war.
Der große Tag
Seit langer Zeit ist die Weihnachtszeit die Zeit mit der Familie und man genießt die Ruhe und Freude gemeinsam. Mama und Papa hatten sich bisher gar nicht auf Weihnachten gefreut, was sollte man der Familie nur sagen?
Dies änderte sich am 23.12.2019 um ca. 15:30 Uhr nach dem Gespräch in Mannheim mit Herrn Professor Schaible und einem Herrn Professor Kohl. Die beiden waren die Ersten seit der Diagnose am 14.11.2019, die uns eine gewisse Chance einräumten. Sie sprachen von 50-70 % bei mir etwas höhere Chancen, was ich verstehen kann … Nein, es lag nicht daran, dass – wie Herr Schaible auch als erster behauptete – ich ein Girl sei und Felix ein Boy, sondern an dem etwas besseren Fruchtwasser-Stand bei mir. Mama und Papa waren überglücklich, dies war um ein Vielfaches mehr, als sie sich von dem Termin erhofft hatten. Nun hieß es weiter durchhalten, vielleicht noch 6-7 Wochen bis zur 28. Schwangerschaftswoche, wenn alles gut läuft, aber weiter mit dem Motto: einen Tag nach dem anderen. Zusätzlich wie immer auch nach Weihnachten jeden Tag ein Geschenk aufmachen, trinken, Temperatur und Blutwerte prüfen.
Stationäre Aufnahme mit Happy End
Am 10.01.2020 wurden wir in Mannheim aufgenommen. Meine für den späteren Verlauf sehr positive Poleposition und der Verlust von Fruchtwasser konnten bei der Aufnahme festgestellt werden.
Die Wochen im Krankenhaus vergingen und wir wurden regelmäßig untersucht und waren gut versorgt. Die Lungen von Felix waren für einen positiven Verlauf bei einer Geburt leider zu schlecht durchblutet und zwischen dem vierten und fünften Rippenbogen auch dazu noch zu klein. Wollten wir Felix retten, mussten wir auf die Hilfe von Herr Professor Kohl hoffen. Bei mir konnte der Eingriff, die sogenannte fetoskopische Tracheal-Ballonokklusion (FETO), aufgrund meiner Lage wahrscheinlich nicht durchgeführt werden und man musste hoffen, dass meine Lungen trotz fehlendem Fruchtwasser gut genug entwickelt waren. So entschieden sich Mama und Papa, den Eingriff nur bei Felix durchzuführen, um für mich kein unnötiges Risiko einzugehen, da meine Durchblutung der Lungen sehr gut war, nur der Brustkorb durch das fehlende Fruchtwasser auch sehr eingeengt war. Uns wurde gesagt, dass Felix der erste Zwilling ist, bei dem der Eingriff, bei dem ein kleiner Ballon (Trachealballon) in die Luftröhre eingesetzt wird, durchgeführt wurde. Am 20.02.2020 wurde der Eingriff bei Felix mit höchster Präzision und Qualität durch Herr Professor Kohl erfolgreich durchgeführt. Nach dem Einsetzen des Ballons gelingt es der Lunge an Volumen zu gewinnen und die Durchblutung der Lungen wurde zusätzlich durch Einatmen von reinem Sauerstoff angeregt.
Leider bekam Mama bereits zwei Tage nach dem Eingriff Wehen. Wir konnten das Ganze mit ihrer Hilfe noch bis zum Dienstag hinauszögern und so kamen wir am 25.02.2020 mit der Hilfe von Herrn Kohl und Herrn Schaible zur Welt. Mama und Papa und natürlich auch Felix und ich sind unendlich dankbar. Ich möchte behaupten, Herr Prof. Kohl und Herr Professor Schaible mit ihrem Optimismus haben meinem Bruder und mir das Leben gerettet.
In der schweren Krise wurden wir nach der Geburt im Uniklinikum Mannheim 3 Monate lang vorbildlich versorgt. Jede Schwester, jede Ärztin, jeder Arzt und alle Therapeuten gaben 100 % für ihre kleinen Patienten. Wir wurden am 30.05.2020 entlassen. Felix wollte aber nicht mit leeren Händen nach Hause gehen und nahm sein HighFlow Gerät mit, zum Glück ohne Sauerstoff. Von Juni bis Oktober hat Felix gebraucht, um selbstständig atmen zu können. Er hätte es vielleicht auch früher geschafft, aber Mama wollte es langsam angehen, damit er für den Winter vorbereitet ist.
Jetzt ist es schon ein Jahr vergangen und wir sind groß, fröhlich, gesund und halten die Mama auf Trab. Sie bleibt noch eine Weile mit uns daheim und das freut uns.
So viel zu unserer Geschichte. Vielen Dank, wenn Sie sich die Zeit nehmen konnten, sie zu lesen.
Julia und Felix
Julias und Felix Eltern sind Teil des Patenprogramms des BFVEK e.V. und freuen sich über Ihre Kontaktanfragen mit unserem Online-Formular.
Sie brauchen Hilfe? Wir sind für Sie da!
Unsere Paten sind Familien, die in der selben Situation waren wie Sie. Die Paten stehen Ihnen für einen Austausch über das jeweilige Krankheitsbild, über Erfahrungen vor und nach der Geburt sowie ihre persönlichen Entscheidungswege zur Verfügung. Somit können Sie besser den idealen Weg für Ihre eigene Familie finden.
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